Wer mitbestimmen will, muss auch Verantwortung übernehmen

© Bundesregierung/Steffen Kugler
Porträtfoto von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Was wollen wir heute spielen? Wohin soll der nächste Ausflug gehen? Und wer ist dran mit Aufräumen? Im Alltag von Kindern gibt es viele Situationen, in denen die Mädchen und Jungen einzeln oder als Gruppe Entscheidungen treffen. Und das ist wichtig, denn sie wollen ihre Welt nicht nur erkunden, sondern sie aktiv mitgestalten.

Im Rahmen der Themenwoche Mitbestimmung sprechen wir mit jemandem, der sich mit aktiver Partizipation auskennt: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärt im Interview, warum es so wichtig ist, dass Kinder schon früh Demokratie kennen lernen und wie er selbst zu guten Entscheidungen kommt.

Welche Möglichkeiten der Mitbestimmung hatten Sie als Kind in der Grundschule?

Meine Grundschule war eine Zwergschule mit mehreren Jahrgängen in einem Klassenraum. Für die wenigen Lehrer, die wir hatten, war es eine tägliche Kunst, die eine Gruppe mit Aufgaben zur Stillarbeit zu versorgen, damit eine andere Gruppe im gleichen Raum ihr Diktat schreiben konnte. Die Vermeidung von gegenseitigen Störungen stand im Vordergrund, für Mitbestimmung blieb da nicht viel Raum.

Mit der Demokratie ist es wie mit allen anderen Fertigkeiten: Man muss sie als Kind lernen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Heute werden Verhaltensregeln in Kitas und Grundschulen mit den Kindern gemeinsam erarbeitet, es wird zusammen entschieden, wohin der nächste Ausflug geht und Kommunen richten Kinderparlamente ein. Warum ist es so wichtig, dass Kinder schon sehr früh Demokratie kennenlernen? 

Mit der Demokratie ist es wie mit allen anderen Fertigkeiten: Man muss sie als Kind lernen. Es ist schwieriger, wenn man erst im Erwachsenenalter damit anfängt und alte Gewohnheiten dafür aufgeben muss. Zudem ist mit kindgerechter Demokratie, also der konsequenten Beteiligung von Kindern, auch verbunden, dass wir die jungen Persönlichkeiten ernst nehmen. Das ist nicht nur ein Kinderrecht, sondern hat auch einen hohen pädagogischen Wert. Die Kinder machen dabei die Erfahrung, gehört zu werden, Einfluss nehmen zu können, aber auch an Grenzen zu stoßen.

Deshalb finde ich es richtig und wichtig, dass in der Erziehung heute darauf geachtet wird, Mitbestimmung immer im angemessenen Maß, der kindlichen Entwicklung entsprechend, gemeinsam mit den Kindern zu entwickeln und zu üben. Die Kinder lernen dadurch, selbst Lösungen zu suchen und Verantwortung zu übernehmen. Sie lernen, dass man seine eigene Meinung nicht immer durchsetzen kann, es manchmal Kompromisse braucht, man auch mal überstimmt wird und das Ergebnis trotzdem mittragen muss. Im besten Fall lernen sie sogar, sich in andere einzudenken, in deren Sicht bei der Suche nach einer Lösung – denn über Entscheidungen zu schimpfen ist einfach, es selber besser zu machen oft nicht. Wer mitbestimmen will, muss auch Verantwortung übernehmen. Verantwortung für sich selbst und für andere gehört zu einem gelungenen Zusammenleben dazu, und sie macht einen erwachsenen Menschen aus.

Wer mitbestimmen will, muss auch Verantwortung übernehmen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Nicht nur in Zeiten einer Pandemie treffen Sie als Politiker folgenreiche Entscheidungen für viele Menschen, oft gemeinsam mit anderen. Wie kommen Sie zu guten Entscheidungen?

Als Bundespräsident bin ich ja kein Mitglied der Bundesregierung, ich kann Ihnen aber aus meiner Erfahrung berichten, aus meiner Zeit in verschiedenen Regierungen: Idealerweise kommt man zu guten Entscheidungen, indem man zunächst eine gute Informationsbasis hat, indem man breites Fachwissen sowie viele unterschiedliche Meinungen und Interessen berücksichtigt. Auf dieser Grundlage kann man dann sinnvolle Lösungen für Probleme erarbeiten.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil einer guten Entscheidung in einer Demokratie:  Mit allen Partnern, die einbezogen werden müssen, einen fairen Kompromiss zu finden, mit dem alle Seiten leben können. Dazu gehört natürlich, dass die Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten – hier sind wir wieder beim Thema "Verantwortung". Und natürlich gehört auch dazu, das Beste aus einer Situation zu machen, wenn ein Kompromiss mal nicht möglich ist.  Auch das gibt es ja, z. B. wenn man eben nicht mit verantwortungsvollen Partnerinnen und Partnern am Tisch sitzt und dennoch eine Lösung erarbeiten muss, die für möglichst viele Menschen eine gute ist.

Welchen Beitrag können Schulen und Kitas leisten, damit Kinder lernen, später im Leben selbstbestimmt zu denken und verantwortungsvoll zu handeln?

Der Beitrag, den Kitas und Schulen hierzu leisten, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Und der Auftrag, Kinder zu selbstdenkenden und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen, wird in einer immer komplexeren Welt nicht leichter. Über die Demokratieerziehung sprachen wir schon. Und nicht alle Kinder bekommen aus dem Elternhaus die besten Startchancen mitgegeben. Heute kommt hinzu, dass sich einige Menschen von Fake News in die Irre führen lassen, weil sie nicht gelernt haben, Informationen von bloßen Behauptungen oder gezielten Falschinformationen zu unterscheiden. Diese Kompetenz müssen wir überall im Bildungsbereich vermitteln, zur Stärkung jedes Einzelnen und damit unsere Demokratie auch in Zeiten einer digitalen Öffentlichkeit funktionsfähig bleibt.

Zu einem selbstbestimmten Leben gehört aber auch die Fähigkeit, die eigenen Gefühle reflektieren zu können. Das muss gelernt werden, damit man sich nicht auf dem Schulhof oder auch von Sozialen Medien zu kopflosen Empörungsstürmen verleiten lässt. Es fühlt sich vielleicht gut an, sich der Wut hinzugeben, aber letztlich macht man sich damit nur zur Marionette derjenigen, die zu dieser Empörung anstiften.

Hier liegt also eine weitere Vermittlungsaufgabe, die die Fachkräfte in Schulen und sogar auch schon in den Kitas stemmen müssen. Ich hoffe sehr, dieser Aufgabenzuwachs wird durch einen entsprechenden Zuwachs an Möglichkeiten zur Fortbildung und an Ausstattung mit pädagogischem Personal unterstützt. Denn was wir in der kindlichen Bildung versäumen, ist später nie wieder ganz aufzuholen.

Das Interview ist auch in der "Forscht mit!"-Ausgabe 02/21 erschienen.

Die Themenwoche "Kinder bestimmen mit!"

Kinder entscheiden den Essensplan
© Christoph Wehrer/Stiftung Kinder forschen
Kinder bestimmen mit!

Kinder kennen aus ihrem Alltag zahlreiche Situationen, in denen sie einzeln oder als Teil der Gruppe Entscheidungen treffen. Unter dem Motto "Ja, Nein, Vielleicht – Kinder bestimmen mit!" hat die Stiftung eine Themenwoche mit vielen Anregungen und praktischen Ideen geplant, um gemeinsam mit den Kindern das Wählen und Mitbestimmen zu entdecken und zu erforschen.

Von der Themenwoche inspirieren lassen
Portrait von Anna Lenke
Autor/in: Anna Lenke

In der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ unterstütze ich das Team Presse, Public Affairs und Digitale Kommunikation u.a. mit dem wöchentlichen Nachrichtenmonitoring und dem Pressespiegel. Während meines dualen Studiums in Bielefeld habe ich bereits erste Kommunikationserfahrungen sammeln können. Mir macht die Arbeit im bildungspolitischen Umfeld sehr viel Spaß und ich freue mich auf die kommenden Zeiten in der Stiftung.

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